Hörzeug*innen: Erinnerungen an Nicht-Orte

Welche (Nicht-Orte) begegnen Menschen auf der Flucht? Wie wird die Ortslosigkeit wahrgenommen? Und wie prägen diese Nicht-Orte das Leben der Menschen?

Bis zur „Ankunft“ müssen sich Menschen auf der Flucht durch Orte bewegen, die keinen Bezug zu den traditionellen Denkmustern und keinen Bezug zur Geschichte haben: Bahnhöfe, Schiffe, Flughäfen und Autobahnen sind Beispiele für diese “Nicht-Orte”.
Der Workshop möchte junge Teilnehmende dazu bewegen, die Aussagen der interviewten Menschen aus dem Archiv der Flucht mit gestalterischen Mitteln fassbar zu machen.
Dabei steht das Auditive und die eigene Reflexion im Vordergrund. Mit portablen Audiogeräten und/oder Handys nehmen die Teilnehmenden Geräusche auf, die anschließend in eine Klangcollage einfließen. Die Stücke können auf Plattformen wie Soundcloud für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Dauer

2-3 Tage á 4 Stunden

Empfohlene Altersgruppe

ab 15 Jahre

Themen/Inhalte

Fluchtrouten, Ankunft in Deutschland, Nicht-Orte, Erinnern, Erinnerungskultur, Klangcollagen, Soundcollagen

Digitale Werkzeuge und Medienpraxis

  • aktives Zuhören der akustischen Umwelt (Soundscape)
  • Klangaufnahmen /Soundskizzen
  • Audioproduktion mit Audacity

Technische Ausstattung Teilnehmende

  • 5 portable Aufnahmegeräte (Batterien + SD Karten)
  • 5 Laptops mit dem installierten Schnittprogramm “Audacity”
  • 5 Kopfhörer
  • 5 Kopfhörerverstärker (optional)
  • Stereopaar Computer-Lautsprecher zum gemeinsamen Hören

ZUR FREIEN NUTZUNG

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Bildungsmaterial ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Sie können dieses Bildungsmaterial frei nutzen, weiterbearbeiten, neu veröffentlichen, sofern Sie die Namen der Erstellenden angeben wie folgt:

CC-BY 4.0 medialepfade.org; Aleksandar Vejnovic, Katrin Hünemörder, Dr. Christine Kolbe, Daniel Seitz, Eva Hasel, Birte Frische, Christine Lordong, Sika Dede Puhlmann, Mohammed Habibullah Scheikani

Anschlüsse zum Archiv der Flucht

Die entstehenden Klangcollagen treten aus den Aussagen der Interviewten hervor. Im Rahmen des Workshops und im Bezug zum Archiv der Flucht wird die Aufmerksamkeit auf folgende Fragen gerichtet: Welche Nicht-Orte begegnen den Menschen auf der Flucht? Wie wird die Ortlosigkeit wahrgenommen? Und wie prägen Nicht-Orte das Leben der Menschen?

Im Workshop ist die Auswahl der Interviews den Teilnehmenden freigestellt.

Videosequenzen

Évá Ádám

Ungarische Romnja, 2015 nach Deutschland gekommen.
https://archivderflucht.hkw.de/eva-adam

Sequenze(n)

Gleichbehandlung durch Lehrer, Diskriminierung in der Schule, Rassismus gegen Roma Bevölkerung – 31:40 – 41:00
Situation der Roma in Ungarn – 58:00 – 1:06:22
Privilegien und Armut, Hautfarbe – 1:15:34 – 1:19
Entscheidung für Berlin – 1:23:15 – 1:30

Regina Werbert-Lehmann

Flucht aus der DDR in die BRD, Sommer 1989
https://archivderflucht.hkw.de/regina-werbert-lehmann

Sequenze(n)

Teilnahme an Demonstrationen und Meinungsfreiheit – 42:00 – 47:40
Motivation der Flucht und Vorstellung des Lebens im Westen – 1:06 – 1:15
Mitgenommene Gegenstände, Planung – 1:17 – 1:25:18
Erster BigMac, erste BILD-Zeitung, Fluchtbeginn 1:33 – 1:39
Die Flucht – 1:40 – 1:52:11
Hilfe annehmen – 1:56:40- 1:59:20
Ankunft in Westberlin (von Köpenick nach Schöneberg) – 2:00 – 2:09:10
Glück und Selbstbestimmung – 2:11:15 – 2:13:20

 

ViKtor

https://archivderflucht.hkw.de/viktor

Sequenze(n)

Flucht aus der Sowjetunion (Ukraine) – 53:05 – 1:13:30
Fahrt nach Ostberlin – 45:55 – 47:32
Fahrt nach Westberlin – 50:47 – 53.30
Asylantrag und Umzug nach Bayern – 1:01:45 – 1:03:20
Pendeln zwischen Berlin und Bayern- 1:05:30 – 1:10:06
Rückkehr nach Berlin – 1:13:16 – 1:14:25

 

Lucía Muriel

Migration aus Kolumbien in die DDR, später nach Westberlin
https://archivderflucht.hkw.de/lucia-muriel

Sequenze(n)

Schiffsreise nach Deutschland, Ankunft in der DDR; Kindheit und Rassismus in der DDR –  15:19 – 30:40

Beherrschung der deutschen Sprache und Diskriminierung an der Uni – 1:07:40 – 1:10:25

2:01:21 – 2:07:28 Identität, Zugehörigkeit, Begriff: “Migrationshintergrund”

 

Gudrun Lintzel

Vertrieben 1945 aus Grünberg in Schlesien nach Deutschland, dann geflüchtet aus der DDR in die BRD
https://archivderflucht.hkw.de/gudrun-lintzel

Sequenze(n)

Illegale Reise nach Stuttgart -28:49 – 41:24
Grenzen, Reise und Kontrolle – 1:08:58 – 1:13:37

 

Bildungsorte | Präsenz + online

Der Soundworkshop ist u.a. für Schulen, Bibliotheken, Vereine und Jugendzentren geeignet. Je nach Bedarf kann der Workshop zeitlich und räumlich angepasst werden. Empfohlen wird ein Zeitraum von drei Tagen á 4 Stunden.

Der Workshop ist für Präsenz entworfen – eine Durchführung als reiner online Workshop ist denkbar, wenn die Teilnehmenden mit der Aufnahmefunktion etwa ihrer Smartphones arbeiten und es gewohnt sind, eigenständig zu arbeiten. Der Audioschnitt mit Audacity ist nicht kollaborativ möglich. Um die Soundskizzen zu sammeln und zu präsentieren, sollte eine gemeinsame Cloud genutzt werden.

Bildungsziele und Handlungsoptionen

Vor allem im schulischen Kontext ergänzt der Workshop die Behandlung von Flucht und Migration durch kreative Medienarbeit. Darüber hinaus stärken die Teilnehmenden soziale Kompetenzen, wie Kommunikation in der Gruppe und Reflexion durch künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema.

Ausführliche Workshop- oder Modulbeschreibung

Ein Fluchtweg erstreckt sich in den meisten Fällen über mehrere Orte. Bis zur „Ankunft“ müssen sich Menschen durch Orte bewegen, die keinen Bezug zu den traditionellen Denkmustern und zur Geschichte haben. Zwischen Fluchtort und Ankunftsort werden Menschen von einer Ortlosigkeit begleitet. Bahnhöfe, Schiffe, Flughäfen und Autobahnen sind Beispiele, die als Transit-Orte bzw. Nicht-Orte bezeichnet werden. Ein Nicht-Ort ist eine Denkfigur, geprägt vom französischen Anthrophologen Marc Augé, die den Mangel eines Ortes bezeichnet und einen menschlichen Bezug zu ihm erschwert. Obwohl dieses Konzept mittlerweile bekannt ist, kann die Wahrnehmung von Nicht-Orten hinterfragt werden, wie etwa: Können Nicht-Orte auch ein Gefühl der Heimat erzeugen? Ist die Einsamkeit immer ein Ergebnis der Nicht-Orte? Haben Nicht-Orte wirklich ihre eigene Identität oder hängt sie auch von der Wahrnehmung des einzelnen Menschen selbst ab? Fragen, die neue Relationen zulassen und die es Menschen erlauben geschichtslose Orte mit eigenen Relationen zu füllen.
Im Rahmen des Workshops und im Bezug zum Archiv der Flucht wird die Aufmerksamkeit auf folgende Fragen gerichtet: Welche Nicht-Orte begegnen den Menschen auf der Flucht? Wie wird die Ortlosigkeit wahrgenommen? Und wie prägen Nicht-Orte das Leben der Menschen?

Grober Ablauf

1  Einführung in den Workshop (Was sind die Ziele? Warum machen wir das? Warum ist euer Beitrag bzw. Auseinandersetzung mit dem Thema wichtig?).

2  Einführung in das Archiv der Flucht und Nicht-Orte.

3  Einführung in Sound (2-3 Hörübungen).

4  Gruppenbildung, Gemeinsames Ansehen der Video Sequenzen, Gruppenbesprechung (Entwicklung der Soundskizzen)

5  Nach kurzer Einweisung mit den portablen Aufnahmegeräten und Aufnahmetechniken, machen die TN-Gruppen ihre ersten Aufnahmen.

6  Gemeinsames Anhören der Aufnahmen.

7  Kurze Einführung in Audacity (Soundspuren herauslösen, Soundschnitt) exportieren der Klangcollagen.

8  Erstellung der Klangcollagen in Audacity.

9  Fertige Klangcollagen als wav. oder mp3 exportieren.

10 Klangcollagen auf Soundcloud hochladen.

Ausführlicher Ablauf – Tag 1

Teil 1: Archiv der Flucht

Vorstellung und Auseinandersetzung mit dem Archiv der Flucht (15 min.)

Aufgabe 1 (45 min.): Was fällt euch zu folgenden Begriffen/Fragen ein?
Wann fandet ihr Geschichte mal wirklich spannend und warum?
Wie wird entschieden, was in Geschichtsbüchern steht?
Was verbindet ihr mit dem Begriff “Migration”?
Was verbindet ihr mit dem Begriff “Flucht”?
Austausch über Transit-Orte bzw. Nicht-Orte

Aufgabe 2 (50 min.): Entscheidet euch für ein Video und nehmt euch 20 Minuten Zeit, in das Video reinzuschauen. Beantwortet folgende Fragen:
Wer ist die Person, die interviewt wird?
Gab es etwas, das euch an der Geschichte besonders interessiert hat? Wenn ja, was?

Teil 2: (120 min.) Arbeit mit Sound / Aufnahmen

Gemeinsame Hörübungen (siehe Hörübungen)
Gruppenbildung (Empfehlung: max. drei Personen/Gruppe)
Erstellung Soundskizzen in Gruppen (siehe Soundskizzen)
Einweisung in Aufnahmegeräte
Aufnehmen der Sounds

Tag 2

Teil 3: Arbeit mit Sound / Audacity (180 min.)

Einführung in Audacity (siehe Einführung in Audacity)
Erstellung der Klangcollagen auf Audacity (siehe Gestaltungsmöglichkeiten)
Klangcollagen als mp3 oder wav. exportieren
Gemeinsames Anhören
Klangcollagen auf Soundcloud hochladen

Hörübungen

Für die Sensibilisierung für Klänge und das Hören werden kurze Übungen empfohlen.

Übung 1 – Fragen:

Frage 1: Was war das erste Geräusch, das ihr heute Morgen gehört habt?
Frage 2: Was findet ihr visuell “schön” aber akustisch “hässlich”? Was findet ihr visuell “hässliche” aber akustisch “schön”?

Übung 2 – Gemeinsames Hören (1 min.) und Austausch (5 min.)

Die Teilnehmenden sollen eine Minute lang konzentriert ihre Umgebung anhören. Danach sollen sich die Teilnehmenden über folgende Fragen austauschen: Was habt ihr gehört? Welches Geräusch habt ihr am lautesten, welches am leisesten wahrgenommen?

Übung 3 (Alternativ zu Übung 2) – Soundwalk (15 min.)

Ein Soundwalk ist ein Hörspaziergang, bei dem sich Teilnehmende durch aktives Zuhören der akustischen Umwelt, der Soundscape, widmen. Beim Hörspaziergang sollten folgenden Regeln eingehalten werden:

während des Hörspaziergangs sollen die TN möglichst keine Gespräche führen

alle technischen Geräte wie Handys sollen vermieden werden

bei größerer Teilnehmeranzahl soll ein Abstand (ca. 1,5 Meter) zueinander eingehalten werden.

Nach jedem Soundwalk soll ein kurzer Erfahrungsaustausch, begleitet mit Fragen, stattfinden:

Wie war das Hörerlebnis?

Was habt ihr gehört?

Welches Geräusch habt ihr am lautesten, welches am leisesten wahrgenommen?

Gab es Wohlklänge und/oder Störgeräusche?

Wie habt ihr die Raumakustik wahrgenommen? (Hier der Hinweis, dass auch Materialien den Schall verschieden reflektieren.)

Soundskizzen

Bevor die Teilnehmenden mit den Klangaufnahmen beginnen, sollte vorab jede Gruppe eine grobe Soundskizze erstellen. Sie dient dazu, eine Orientierung zu geben und einen groben Plan, welche Klänge/Geräusche aufgenommen werden sollen.

Tools: Papier (DINA4) oder größer, Stifte

Folgende Tipps sind hierzu hilfreich:

> wie beschreibt der/die Interviewte ihre Erinnerung, Eindrücke und Emotionen, die sich mit dem Konzept Nicht-Orte in Verbindungen bringen lässt?

> welche prägenden Begriffe werden verwendet, die die Erinnerung beschreiben (z.B. Stille, Lärm, Unsicherheit, Angst, Einsamkeit, Heimat etc.)?

> welche Klänge/Geräusche können diese Assoziationen untermalen?

> Nicht vergessen: Auch die Stimme kann als Einzelelement der Klangcollage verwendet werden.

Einführung in Audacity

Die kurze Einführung soll einen möglichst einfachen Einstieg und eine erste Orientierung in Audacity bieten:

  1. Audacity öffnen
  2. Projekt benennen und speichern
  3. Spuren erzeugen, Audiodateien importieren und Überblick der Funktionen (Alleine, Stumm, Verstärkung, Panorama)
  4. Werkzeuge: Auswahlwerkzeug, Verschiebewerkzeug
  5. Schnitt und Blende (Einblenden/Ausblenden) setzen

Hinweis: Zur Erklärung des Programms steht ein Handbuch als Download zur Verfügung.

Gestaltungsmöglichkeiten

Klangcollagen können mit wenigen Tricks eine starke Dramaturgie enthalten. Obwohl der Workshop die Teilnehmenden zum Experimentieren mit Sound einlädt, sind folgende “Werkzeuge” hilfreich:

Lautstärke: Durch eine geschickte Platzierung der Lautstärke einzelner Sounds können Effekte wie Tiefe erzielt werden, z.B. wenn ein Sound aus der Ferne ertönen soll, kann man ihn einfach leiser regeln. Wenn der Sound dominant oder präsent wirken soll, dann lauter.

Stereofonie

Durch die Stereofonie können Klangcollagen “verräumlicht” werden. Das bedeutet, dass der Sound nicht nur aus der Mitte hörbar ist, sondern auch von links oder rechts. So können verschiedene Sounds geschickt in der Stereofonie verteilt werden, um der Klangcollage “Raum” zu geben. Tipp: Durch feine Schnitte kann auch eine Soundbewegung (z.B. von links nach rechts) erzielt werden. Viele Audioprogramme enthalten auch einen “Pan-Regler”, der durch Automation solch eine Bewegung ermöglicht.

Kontrast

Ein dramaturgisches Mittel ist Sounds in ein Verhältnis zu setzen. Beispielsweise leise Sounds/laute Sounds, Wohlklänge (Vogelgezwitscher)/Lärm (Autobahn), kurze Sounds/lange Sounds, Sounds in der Ferne/Sounds in der Nähe usw.

Vergleich

Obwohl Sounds verschiedene physische Quellen haben, gibt es Sounds mit ähnlicher Struktur, Rhythmus und Form. Auch hier entstehen interessante Klangwelten, wenn diese ins Verhältnis gebracht werden, wenn beispielsweise mehrere Sounds übereinander gelegt werden.